"Die Idee eines deutschen Islam ist nicht abwegig“

Imam Ender Çetin
Ender Çetin ist einer von 26 Muslimen, die im vergangenen September am Islamkolleg Deutschland in Osnabrück als erster Jahrgang ihr Imam-Diplom erhalten haben. (Foto: privat)

Ender Çetin ist einer der ersten Imame, die in Deutschland ausgebildet wurden. Sind sie die Brückenbauer, die wir jetzt brauchen?

Interview von Teseo La Marca

Im Christentum setzt die Kirche klare, aber mitunter auch starre Regeln. Im Islam, insbesondere bei den Sunniten, fehlt eine solche zentrale Autorität. Erster Ansprechpartner bei Fragen und Zweifeln aller Art sind deshalb für die Gläubigen die örtlichen Imame. Sie sind nicht nur Vorbeter, sondern auch Seelsorger, Berater, Mentoren, Kulturvermittler. Entsprechend groß ist ihr Einfluss auf die Gläubigen. 

Bis jetzt waren in den etwa 2500 deutschen Moscheen fast ausschließlich Imame aktiv, die im Ausland ausgebildet wurden und meistens auch dort aufgewachsen sind. Das soll sich nun ändern – mit einer deutschen Imam-Ausbildung. Ender Çetin ist einer von 26 Musliminnen und Muslimen, die im vergangenen September am Islamkolleg Deutschland in Osnabrück als erster Jahrgang ihr Imam-Diplom erhalten haben.  

Warum die deutsche Innenministerin Nancy Faeser die Ausbildung einen "Meilenstein für die Integration“ nannte, wie es mit der Akzeptanz der neuen Imame in der muslimischen Community steht und wie man gegen selbsternannte Imame vorgehen kann, die auf Social Media radikale Botschaften verbreiten, erzählt Ender Çetin im Interview.  

Herr Çetin, Sie gehören zum ersten Jahrgang der Imame, die in Deutschland ausgebildet wurden. Was ist der größte Unterschied zwischen Ihnen und einem Imam aus der Türkei? 

Ender Çetin: Ein großer Vorteil ist, dass wir die deutsche Lebensrealität kennen. Davon profitieren in erster Linie die Moscheebesucher, die sich mit Fragen und Unsicherheiten – teilweise auch ganz praktischer Natur – an ihre Imame wenden. Wir verstehen ihre Sprache, ihren Slang, ihren Humor, ihre Probleme. In bestimmten Fällen kann es aber auch sinnvoll sein, Imame aus dem Ausland zu holen. 

Deutschland/Islamkolleg/Symbolbild; Foto: Metodi Popow/imago images
Im Islamkolleg in Osnabrück werden Musliminnen und Muslime in deutscher Sprache als Seelsorgerinnen und Imame ausgebildet. (Foto: Metodi Popow/imago images)

Liberal aber abhängig

Wann zum Beispiel? 

Çetin: Es gibt Moscheen, die sich auch als Kulturverein verstehen, in dem die türkische Sprache und Kultur gepflegt werden. Da macht es Sinn, einen Imam aus dem Herkunftsland einzuladen. Man muss also immer die Bedürfnisse der einzelnen Moscheevereine im Blick behalten. Meistens ist die Ausbildung in der Türkei auch länger und fundierter. Es kommen dann die besten Koranrezitatoren, die den Koran besonders melodisch vortragen können.  

Ausländischen Imamen wird oft vorgeworfen, sie verbreiten hier eine konservative Auffassung von Islam. 

Çetin: Das kommt auf die lokalen Gemeinden an. Aber es stimmt, dass diese Imame sich an bestimmte Vorgaben halten müssen. Ich habe selbst für den größten türkischen Dachverband DITIB gearbeitet. Die meisten Imame, die ich dort kennengelernt habe, haben die Texte sehr zeitgemäß interpretiert. 

Sie haben sich dann aber nicht getraut, das in ihren Predigten so zu vermitteln. Wenn ich sie nach dem Grund frage, sagen sie: Die Gemeinde würde das nicht verstehen – und schlimmstenfalls kann die Religionsbehörde aus dem Herkunftsland ihn kündigen oder in eine andere Gemeinde versetzen. 

Sie haben im vergangenen September Ihr Diplom bekommen. Was ist seitdem passiert? 

Çetin: Praktisch hat sich in meinem Leben nichts verändert. Ich arbeite noch immer als Seelsorger im Gefängnis, bin an Schulen für das Projekt Meet2Respect unterwegs. Da stehe ich zusammen mit einem Rabbiner-Kollegen vor den Schülerinnen und Schülern Frage und Antwort. Aber ich fühle mich jetzt sicherer, ich bin ein anerkannter, ausgebildeter Imam. 

Wie ist die Jobsituation bei den anderen aus Ihrem Jahrgang? 

Çetin: Viele fragen sich, wie es jetzt weiter geht. Der Bedarf an muslimischen Seelsorgern im Krankenhaus oder im Gefängnis, aber auch in der Bundeswehr ist groß. Es gibt aber noch keine Stellenangebote. Wir haben jetzt zwar alle ein Zeugnis, aber wir arbeiten teilweise noch immer in unseren früheren Jobs, in der Schule oder als Angestellte am Flughafen. Das ist nicht das, was wir uns erhofft haben. 

Innenministerin Faeser sagte im November, das Ziel sei, die aus dem Ausland entsendeten Imame schrittweise komplett zu ersetzen.  

Çetin: Die Frage ist: Wer bezahlt diese Imame? Eine Moscheesteuer – ähnlich der Kirchensteuer – gibt es nicht. Den einzelnen Moscheevereinen fehlt es an den nötigen Mitteln, Ehrenamt ist oft die einzige Möglichkeit. Es gibt aber die Hoffnung, dass durch Projekte hauptberufliche Imame finanziert werden können. Oder dass ein zentraler Verein gegründet wird, über den die Imame angestellt werden können.  

Manche Muslime fürchten einen "deutschen Staatsislam“. Werden Sie als Imam, der hier ausgebildet wurde, akzeptiert? 

Çetin: Ich höre das auch in meiner eigenen türkischsprachigen Community: "Ja natürlich will der Staat keine Imame mehr aus der Türkei, er will seinen eigenen Islam erschaffen.“ Ich finde die Idee eines deutsch geprägten Islamverständnisses aber gar nicht so abwegig.  

In der Regel werden Imame für vier Jahre entsandt, sind türkische Staatsbeamte und bringen wenig Wissen über Deutschland mit.
In der Regel werden Imame der DITIB für vier Jahre entsandt, sind türkische Staatsbeamte und bringen wenig Wissen über Deutschland mit. (Foto: Christoph Reichwein/dpa/picture alliance)

Religion von Kultur unterscheiden

Das müssen Sie genauer erklären. 

Çetin: Kulturen prägen die Religion. Man kann deshalb von einem türkischen, marokkanischen, persischen oder indonesischen Islam sprechen. Das Problem ist, dass kulturelle Werte oft als Religion missverstanden werden. Beispielsweise die Einschränkungen für Frauen. 

Hierbei geht es um traditionelle Werte, die bei genauerer Betrachtung wenig mit Religion zu tun haben. Deshalb kann es durchaus sein, dass sich hier in Deutschland ein neues Verständnis von Islam entwickelt, das für türkische oder arabische Verhältnisse erstmal neu sein mag, aber trotzdem von den theologischen Quellen her fundiert und legitim sein kann. Wichtig ist nur, dass dieser "deutsche Islam“ über innermuslimische Debatten entsteht, und nicht irgendwie von oben forciert wird. 

Wann haben Sie persönlich beschlossen, Imam zu werden? 

Çetin: Am Anfang stand eine Identitätskrise. Als Jugendlicher habe ich mich gefragt: Wo gehöre ich dazu? Bin ich Muslim oder nicht? Wer und was bin ich eigentlich? Meine Familie war nicht so religiös. In der Mehrheitsgesellschaft habe ich aber Druck gespürt: Man muss sich integrieren und gehört am Ende doch nicht dazu. Das hat bei mir das Gefühl ausgelöst, dass ich etwas verteidigen muss. Und so wurde ich mit 17 Jahren immer religiöser.  

Religiosität als Protest

Wie hat sich das geäußert? 

Çetin: Erstmal nur in den üblichen Verhaltensweisen: Alkohol war tabu, ich habe begonnen, fünf Mal am Tag zu beten. Ich war sehr streng mit mir. Ich habe zum Beispiel gedacht, ich müsste alle Gebete nachholen, die ich mit 13 oder 14 nicht gemacht habe. Aber ich bereue diese Zeit nicht. 

Die Gesellschaft stempelt solche Jugendliche oft als radikal ab, aber ich finde diese Entwicklung wichtig, damit man weiterwächst und selbst merkt, in welchen Punkten man in der Vergangenheit vielleicht falsch lag.  

Ich kenne das aus meiner eigenen Jugend anders. Wir haben rebelliert, indem wir eine antibürgerliche Haltung einnahmen. Warum gehen muslimische Jugendliche den konservativen Weg? 

Çetin: Weil in der Gesellschaft eine areligiöse Haltung vorherrscht. Dann wird Religion zum Mittel, um sich von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen. Für einen Jugendlichen zählt erstmal nicht, ob man gut oder schlecht ist, sondern dass man überhaupt jemand ist. Dass die Gesellschaft einen wahrnimmt. 

Und wenn der Islam für die Gesellschaft das Böse ist, dann ist man eben erst recht "Muslim", man fühlt sich stark und gefährlich. Früher war man noch der "Ausländer“, auch wenn man hier geboren und aufgewachsen ist. Jetzt ist man für die Gesellschaft in erster Linie der Muslim, ein rätselhafter und potenziell gefährlicher Mensch.  

Oktober 2020 in Berlin: Vertreter des Osnabrücker Islamkollegs, Bülent Ucar und Esnaf Begic, präsentieren das Projekt in der Bundespressekonferenz.
Oktober 2020 in Berlin: Vertreter des Osnabrücker Islamkollegs, Bülent Ucar und Esnaf Begic, präsentieren das Projekt in der Bundespressekonferenz. (Foto: Christoph Strack/DW)

TikTok-Imame: Antworten in Zehn-Sekunden-Videos

Gäbe es weniger Extremismus, wenn die Mehrheitsgesellschaft nicht diese Vorurteile hätte? 

Çetin: Ja, ich glaube, dass die Migranten dann paradoxerweise auch weniger religiös wären. Es würden weniger Frauen Kopftuch tragen, es würden weniger Menschen in die Moschee gehen.  

Sie sprechen von einer Art Protestidentität bei vielen Jugendlichen. Nutzen das auch Islamisten, um neue Anhänger zu rekrutieren? 

Çetin: Das ist das Traurige daran. Das Interesse an Religion nutzen auch selbsternannte Tiktok-Imame, die auf ihren Kanälen ein völlig verzerrtes Bild vom Islam vermitteln und krude Botschaften verbreiten. Sie haben teilweise Zehntausende Follower. 

Was hört man da so? 

Çetin: Mein Sohn hat mich neulich gefragt, was ich davon halte, wenn er mit seinen nicht-muslimischen Freunden Geburtstag feiert. Ein Tiktok-Imam hatte nämlich behauptet, das sei gegen die Religion. Auf solche Alltagsfragen geben die Tiktok-Imame kurze und einfache Antworten, die in Zehn-Sekunden-Videos passen. 

Sie sprechen die Jugendsprache, vermitteln aber Botschaften, die aus einer anderen Zeit stammen. Zum Beispiel, dass man keine Christen und Juden als Freunde haben dürfe. Das begründen sie dann, indem sie Koran-Verse aus ihrem Zusammenhang reißen. Solche Kanäle, wie zum Beispiel "Generation Islam“, stecken auch hinter den Demonstrationen, bei denen ein neues Kalifat gefordert wird – also das ganz Extreme. Das sollte uns nachdenklich machen. 

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Muslime unter Rechtfertigungsdruck

Und das wird gerade schlimmer? 

Çetin: Ja. Ein wichtiger Grund ist, dass jetzt Muslime, vor allem Palästinenser, unter Generalverdacht stehen. Wenn sich jemand solidarisch mit Palästina äußert, heißt es: "Ihr seid doch sowieso alle Antisemiten“. Auf diesen Rechtfertigungsdruck haben viele keinen Bock. Und als Reaktion darauf gehen sie dann erst recht ins Extreme.  

Was können wir dagegen tun? 

Çetin: Ich habe mal darüber nachgedacht, warum es gerade mit diesen Fragen so einfach ist, an die Jugendlichen zu kommen: Darf ich mit einem Atheisten befreundet sein? Darf ich mir die Haare kahl rasieren? Darf ich mich von einem jüdischen Arzt behandeln lassen?

Meine Generation hat sich diese Art von Fragen nicht gestellt. Ich glaube, dass ihnen in Wahrheit eine andere Frage zugrunde liegt: Wie kann ich als Muslim in Deutschland leben? Wie kann ich, wenn ich keine Verbindung mehr zu meinem Herkunftsland habe und mich auch hier nicht so richtig angenommen fühle, trotzdem meinen Platz in der Gesellschaft finden? 

Diese Jugendlichen wollen sich einfach integriert und zugehörig fühlen. Das ist etwas Positives, wir müssen ihre Fragen aber ernst nehmen und überzeugende Antworten darauf geben.  

Und die Antworten in ein Zehn-Sekunden-Tiktok-Video packen. 

Das wird definitiv die größte Herausforderung sein. (lacht) 

Das Interview führte Teseo La Marca. 

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